Stefan Zweigs Abschiedsbrief Oliver Matausek Literaturarchiv Salzburg Zentrum für Informationsmodellierung - AustrianCentrefor Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset ManagementSystem CreativeCommonsBY-NC-SA 4.0 Literaturarchiv Salzburg o:szd.thema.5 15.12.2017 Stefan Zweig Digitale Nachlassrekonstruktion Projektleitung Manfred Mittermayer Datenmodellierung Christopher Pollin

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Das Projekt verfolgt das Ziel, den weltweit verstreuten Nachlass von Stefan Zweig im digitalen Raum zusammenzuführen und ihn einem literaturwissenschaftlichbzw.wissenschaftlich interessierten Publikum zu erschließen. In Zusammenarbeit mitdemLiteraturarchiv der Universität Salzburg wird dabei, basierend auf dem dortvorhandenenQuellenmaterial, eine digitale Nachlassrekonstruktion des Bestandes generiert.So entstehtein strukturierter Bestand an digitalen Objekten, der im Sinne derdigitalenLangzeitarchivierung repräsentiert wird, und NutzerInnen orts- undzeitunabhängigzugänglich ist. Das Projekt ist so konzipiert, dass zu einem späterenZeitpunktErschließung und Anreicherung des Quellenmaterials (z.B. digitalen Editionen)möglichwerden.

ICH HABE DAS LEBEN ZU SEHR GELIEBT

Einige Anmerkungen zu Stefan Zweigs „Declaração“ anlässlich seines 80. Todestages am 23. Februar 2022

Das von Stefan Zweig mit dem portugiesischen Wort „Declaração“ als „Erklärung“ betitelte Schreiben vom 22. Februar 1942 ist zweifellos sein bekanntestes und meistzitiertes Lebensdokument. Es entstand unter dramatischen Umständen, denn am folgenden Tag fanden die Bediensteten Zweig und seine Frau Lotte leblos im Bett ihres Hauses in Petrópolis auf. Der herbeigerufene Arzt trug die Einnahme giftiger Substanzen als Todesursache in die amtlichen Dokumente ein und die polizeiliche Untersuchung schloss eine Beteiligung Dritter aus, so dass keine Zweifel daran bestanden, dass Stefan und Lotte Zweig sich nach Jahren im Exil selbst zu diesem Schritt entschieden hatten.

Datierungen und Poststempel zeigen, dass das Ehepaar bereits eine ganze Reihe von persönlichen Abschiedsbriefen an Freunde und Familienmitglieder verfasst und zur Post gebracht hatte, als Stefan Zweig seine offizielle Erklärung niederschrieb. Darin wandte er sich allein an die Öffentlichkeit, ohne seine Frau zu erwähnen, die sich zum gemeinsamen Suizid entschlossen hatte. Aufgrund der langen und durch den Krieg zusätzlich erschwerten Postwege und Zensurkontrollen dürften die persönlichen Abschiedsschreiben ihre Empfängerinnen und Empfänger erst erreicht haben, als die Nachricht vom Tod und die „Erklärung“ Zweigs längst über Zeitungen und das Radio verbreitet worden waren.

Dem offiziellen Charakter entsprechend, beginnt Zweig seinen Text mit einem Dank an das Land Brasilien, in dem er und seine Frau die letzten Monate verbracht hatten, und äußert sich anschließend mit erklärenden Worten zu seiner als ausweglos empfundenen Lage. Wegen der Bedeutung des Dokuments hinterließ Zweig zwei Exemplare der „Declaração“, was bislang wenig Beachtung gefunden hat, zumal sich die Texte auf den ersten Blick zu gleichen scheinen und für Abdrucke und Zitate üblicherweise eine von Schreibfehlern und Streichungen bereinigte Fassung genutzt wird. Eine dieser „Erklärungen“ wurde 1976 vom Deutschen Literaturarchiv Marbach erworben, die andere befindet sich seit 1992 in der National Library of Israel in Jerusalem. Beide sind handschriftlich verfasst, unterzeichnet und tragen dasselbe Datum. Als Schreibeigenheit ist bei beiden die fehlende Cedilha am zweiten C des Wortes Declaração festzustellen, was für Zweigs Schreibweise nicht ungewöhnlich ist, denn auch bei französischen Texten verzichtete er in der Handschrift häufig auf die Accents.

Als deutlicher Unterschied fällt auf dem Jerusalemer Exemplar zunächst in der oberen linken Ecke eine schräg angebrachte Paraphe auf, die vermutlich von einem der ermittelnden Beamten stammt. Auf dem Marbacher Exemplar hat Zweig selbst hinter der Überschrift in Klammern den Zusatz „Abschrift, Copia“ angebracht. Damit ist der Zweck des sicherheitshalber vorhandenen Doppelstücks korrekt bezeichnet, doch ist die Angabe insofern unrichtig, als es sich eben nicht um eine Abschrift des Textes handelt, sondern vielmehr um dessen Entwurf. Erkennbar wird dies an mehreren Streichungen und Korrekturen, die im vorgeblichen „Original“ aus Jerusalem bereits in der geänderten Form enthalten sind. Obwohl Zweig die entsprechenden Stellen im Marbacher Exemplar mit dem Füllhalter umfassend tilgte, sind alle darunterliegenden Worte der ursprünglichen Formulierungen noch lesbar.

Die erste Stelle, die deutliche Korrekturen trägt, ist das Ende des ersten Absatzes. In der endgültigen Fassung lautet diese auf Brasilien bezogene Passage: „Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und […] meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.“ In der ersten Version des Textes hatte Zweig am Ende des Satzes noch weniger prägnant geschrieben: „nachdem die Welt in der ich in meiner eigenen Sprache schaffen konnte für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet.“

Die zweite Stelle betrifft den Beweggrund für den Suizid. Hier rückte Zweig allein seine Kraftlosigkeit in den Vordergrund und strich aus dem Satz „Aber nach dem sechzigsten Jahr bedürfte es besonderen Mutes und besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen“ die Worte „besonderen Mutes und“. Außerdem ist zur Verstärkung der Aussage das Wort „völlig“ im Entwurf erst später vor dem Zeilenanfang hinzugefügt worden.

Bei der dritten und umfassendsten Streichung handelt es sich um einen ganzen und einen unvollständigen Satz. Die Stelle lautet: „Ich habe das Leben zu sehr geliebt. Eine zerstückte und in ihrem Gefühl verstörte“. In der endgültigen Fassung hat Zweig die Passage mit ihrem prägnanten ersten Satz nicht wieder aufgegriffen.

Die letzte Streichung betrifft den Austausch des Wortes „Unabhängigkeit“ durch „Freiheit“, die Zweig für sich als „das höchste Gut dieser Erde“ ansah.

Abgesehen von einigen kleineren Varianten wie „dieses Land” und „dies Land“ oder „Rast gewährt“ und „Rast gegeben“ und dem Austausch von Punkt und Ausrufungszeichen bei den beiden letzten Sätzen kam es in der endgültigen Fassung nur noch zu zwei kleineren Korrekturen, die wiederum Streichungen nach sich zogen: zunächst den Beginn des Wortes „Europa“, das Zweig wohl versehentlich ohne den vorangehenden Zusatz „meine geistige Heimat“ abgeschrieben hatte und noch entsprechend ergänzte. An der zweiten Stelle hatte er vermutlich von „fast zehn“ Jahren heimatlosen Wanderns schreiben wollen, sich nach der Niederschrift von „fast zeh“ jedoch für die ursprünglich vorgesehene Form „die langen Jahre“ entschieden.

An den Originaldokumenten ist deutlich zu erkennen, dass Zweig seine letzten Worte an die Öffentlichkeit nicht flüssig herunterschrieb, sondern noch zahlreiche Änderungen anbrachte und Aussagen nachschärfte, wie er es bei der Komposition seiner literarischen Werke über Jahrzehnte erprobt und verfeinert hatte. Auf dem Weg vom ersten Gedanken bis zur letzten Fassung entstanden dabei nicht selten vier oder fünf Überarbeitungen, und gemessen an der Bedeutung der „Declaração“ ist keinesfalls auszuschließen, dass auch von diesem Text ursprünglich noch weitere Entwürfe existierten.

I LOVED LIFE TOO DEARLY

Some notes on Stefan Zweig’s “Declaração” on the occasion of the 80th anniversary of his death on 23 February 2022

The letter that Stefan Zweig entitled “Declaração” (or “Declaration” in Portuguese), dated 22 February 1942, is undoubtedly his best-known and most frequently quoted biographical document. It was written under dramatic circumstances, for on the following day attendants found Zweig and his wife Lotte lying lifeless on the bed of their house in Petrópolis. A doctor was summoned, who certified death to have been caused by the ingestion of toxic substances, and the ensuing police investigation ruled out any involvement of third parties, leaving no doubt thatStefan and Lotte Zweig, after years of exile, had decided to take this step on their own.

Dates and postmarks reveal that the couple had already written and posted a series of personal farewell letters to friends and family members when Stefan Zweig penned his official declaration. In the latter, he addressed the public alone, without mentioning his wife, who was determined to end her life together with him. Due to long mail routes, further complicated by conditions of war and censorship, the personal valedictions would not have reached their recipients until long after they had learned of Zweig’s death and his “declaration” over the radio and through the papers.

In keeping with the official character of his message, Zweig begins with a word of thanks to Brazil, the country where he and his wife had spent their last months, before going on to discuss his situation, which, he explains, he has come to view as hopeless. In consideration of the importance of the document, Zweig left behind two copies of his “declaração”. It is perhaps little surprise that this fact has so far attracted little attention, as the two texts appear at first glance to be identical, and publications or quotations usually ignore the corrections and deletions which distinguish the two versions. One of these “declarations” was acquired by the German Literature Archive Marbach in 1976, the other has rested in the National Library of Israel in Jerusalem since 1992. Both are written in Zweig’s own hand, signed, and dated on the same day. Both also share the peculiar spelling of the word “Declaração”, without the cedilha in the second “c” – an idiosyncrasy not unusual for Zweig, who frequently omitted diacritics even in his French handwriting.

An easily noticeable difference is that the Jerusalem letter bears a diagonal paraph in the upper left-hand corner, apparently the initials of one of the investigating Brazilian officers. In the Marbach specimen Zweighimself added the words “Abschrift, Copia” (“copy”) in brackets after the heading. While the addendum correctly indicates the purpose of this precautionary duplicate, it is not entirely accurate, for the Marbach letter was not, in fact, designed as the copy of a text, but rather as its draft. This sequence of composition is evident from several deletions and corrections which were incorporated into the ostensible prototype (actually, the fair copy) in Jerusalem. Although Zweig deleted the relevant passages with close strokes of his fountain pen, the original phrasings underneath remain legible throughout.

The first passage to show clear signs of revision is at the end of the first paragraph. In the final version, this section, which refers to Brazil, reads thus: “Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und […] meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet” (“Every day I have learned to love this country better, and nowhere would I more gladly have rebuilt my life all over again, now that the world of my native tongue has perished for me and my spiritual home, Europe, is destroying itself”). In his first version, Zweig had concluded the sentence less succinctly: “nachdem die Welt in der ich in meiner eigenen Sprache schaffen konnte für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet” (“now that the world in which I was able to create in my native tongue has perished for me and my spiritual home, Europe, is destroying itself”).

The second passage is concerned with Zweig’s motivation for his suicide. Here, the revision stresses his lack of energy alone: in the sentence, “Aber nach dem sechzigsten Jahr bedürfte es besonderen Mutes und besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen“ (“But one would need special courage and special powers to begin completely afresh when one has passed one’s sixtieth year”), Zweig Zweig struck out the words “special courage and”. Also, to reinforce the statement, the word “völlig” (“completely”) was inserted at the beginning of the line after the sentence was completed in the draft.

The third and most extensive deletion concerns a full sentence and a half. It reads: “Ich habe das Leben zu sehr geliebt. Eine zerstückte und in ihrem Gefühl verstörte” (“I loved life too dearly. A dismembered and emotionally distraught”). In his final version, Zweig chose entirely to drop this passage with its poignant first sentence.

The final deletion concerns the word “Unabhängigkeit” (“independence”), which was replaced by “Freiheit” (“freedom”) – for Zweig, “earth’s most precious possession”.

Apart from a few minor changes such as “dieses Land” becoming “dies Land” (a more literary form of “this land”) or “Rast gewährt” (“granted repose”) becoming “Rast gegeben” (“given” or “afforded repose”) and the transposition of stop and exclamation mark in the two final sentences, the fair copy contains only two more small corrections which necessitated deletions: firstly, Zweig cancelled the beginning of the word “Europa” (“Europe”), which he apparently had prematurely copied from his draft, mistakenly omitting the preceding words “meine geistige Heimat” (“my spiritual home”). Secondly, Zweig struck out the fragment “fast zeh”: he had probably wanted to refer to his “nearly ten” years of homeless wandering, then changed his mind and reverted to the “long years” of his draft.

The original documents show clearly that Zweig did not write down his last words to the public in one fell swoop, but rather made numerous changes and honed individual phrases, a process he had practised and refined over decades in the composition of his literary works. It was not uncommon for Zweig to produce as many as four or five revisions when working his way from first idea to final version, and considering the importance of his “Declaração”, it is quite conceivable that further drafts of this text may once have existed as well.

Marbacher Exemplar der Declaração
Hier zum Eintrag im Katalog

Declaracão (Abschrift, Copia)

Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Bra- silien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gewährt. Mit jedem Tage habe ich dieses Land mehr lieben gelernt und nir- gends hätte ich mir lieber mein Leben vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt in der ich in meiner eigenen Sprache schaffen konnte für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernich- tet.

Aber nach dem sechzigsten Jahr bedürfte es beson- deren Mutes und besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. Ich habe das Leben zu sehr geliebt. Eine zerstückte und in ihrem Gefühl verstörte So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit die lauterste Freude und persönliche Unabhängigkeit Freiheit das höchste Gut dieser Erde war gewesen.

Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgen röte noch sehen nach der langen Nacht. Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus!

Petropolis 22. II 1942 Stefan Zweig

Marbach Declaração
See the catalogue record

Declaracão (Abschrift, Copia)

Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Bra- silien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gewährt. Mit jedem Tage habe ich dieses Land mehr lieben gelernt und nir- gends hätte ich mir lieber mein Leben vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt in der ich in meiner eigenen Sprache schaffen konnte für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernich- tet.

Aber nach dem sechzigsten Jahr bedürfte es beson- deren Mutes und besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. Ich habe das Leben zu sehr geliebt. Eine zerstückte und in ihrem Gefühl verstörte So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit die lauterste Freude und persönliche Unabhängigkeit Freiheit das höchste Gut dieser Erde war gewesen.

Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgen röte noch sehen nach der langen Nacht. Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus!

Petropolis 22. II 1942 Stefan Zweig

English approximation

Declaracão (copy)

Before I depart from this life, of my own free will and with a clear mind, I want urgently to fulfil one last duty: I want to give heartfelt thanks to this wonderful country of Brazil which has granted me and my work such kind and hospitable repose. Every day I have learned to love this country better, and nowhere would I more gladly have rebuilt my life all over again, now that the world in which I was able to create in of my native tongue has perished for me and my spiritual home, Europe, is destroying itself.

But one would need special courage and special powers to begin completely afresh when one has passed one’s sixtieth year. And mine have been exhausted by long years of homeless wandering. I loved life too dearly. A dismembered and emotionally distraught It seems to me therefore better to put an end, in good time and without humiliation, to a life in which intellectual work was has always been an unmixed joy and personal independence freedom earth’s most precious possession.

I greet all my friends! May they live to see the dawn after the long night is over. I, all too impatient, am going on alone!

Petropolis 22. II 1942 Stefan Zweig

Jerusalemer Exemplar der Declaração
Hier zum Eintrag im Katalog

Declaracão

Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und Euro meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.

Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die fast zeh langen Jahre heimat- losen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzu- schliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.

Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgen- röte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.

Stefan Zweig ---- Petropolis 22. II 1942

Jerusalem Declaração
See the catalogue record

Declaracão

Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut, nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und Euro meine geistige Heimat Europa sich selber vernichtet.

Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die fast zeh langen Jahre heimat- losen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzu- schliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.

Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgen- röte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.

Stefan Zweig ---- Petropolis 22. II 1942

English approximation

Declaracão

Before I depart from this life, of my own free will and with a clear mind, I want urgently to fulfil one last duty: I want to give heartfelt thanks to this wonderful country of Brazil which has afforded me and my work such kind and hospitable repose. Every day I have learned to love this country better, and nowhere would I more gladly have rebuilt my life all over again, now that the world of my native tongue has perished for me and Euro my spiritual home, Europe, is destroying itself.

But one would need special powers to begin completely afresh when one has passed one’s sixtieth year. And mine have been exhausted by nearly te long years of homeless wandering. It seems to me therefore better to put an end, in good time and without humiliation, to a life in which intellectual work has always been an unmixed joy and personal freedom earth’s most precious possession.

I greet all my friends! May they live to see the dawn after the long night is over! I, all too impatient, am going on alone.

Stefan Zweig ---- Petropolis 22. II 1942

Note: Stefan Zweig’s farewell letter has been variously translated into English. The version given here is largely based on that published in: Elizabeth Allday, Stefan Zweig: A Critical Biography. Chicago: J. Philip O’Hara, 1972, p. 238.